Inhalt
- Eine kleine Orientierung
- Fazit für Kurzleser
- Highlights aus der S3-Leitlinie Sectio caesarea (Kurzfassung)
- Medienecho
- GHS Grosch Hebammen Service Statement und Diskussion
1. Eine kleine Orientierung
Dieser Blogbeitrag ist ein Service von GHS Grosch Hebammen Service für Hebammen. Er soll den Zugang zu der S3-Leitlinie erleichtern und helfen, die darin enthaltenen Informationen zu gewichten. Dieser Beitrag ist keine detaillierte Wiedergabe der Leitlinie, sondern soll über die Kurzfassung dazu verleiten, auch die ausführlichen und gut verständlichen Kommentare der Langfassung punktuell zu lesen.
Warum beschäftigen wir uns als spezialisierter Personaldienstleister mit einer Leitlinie? Ganz einfach: Wir beschäftigen Hebammen in Arbeitnehmerüberlassung, die in ganz Deutschland arbeiten und die Kreißsäle auch in Zeiten der Personalnot am Laufen halten. Dabei erleben die GHS-Hebammen das volle Spektrum stationärer Geburtshilfe. Von Level 1-Häusern bis zu Geburtskliniken mit unter 600 Geburten pro Jahr, von ländlichen Kreißsälen bis hin zu Großstadtkliniken, die süd- und osteuropäische Hebammen in Bussen herantransportieren, von Kliniken mit ca. 20% Sectiorate bis zu Kliniken, die mehr als die doppelte Rate aufweisen. Und so weiter…
Da ist es gut, wenn unsere Hebammen mit dem aktuellen Stand der Evidenz vertraut sind, dies gilt umso mehr für Neu- und Wiedereinsteiger. Auch bedingt die Arbeitnehmerüberlassung besondere Anforderungen, v.a. die Aufnahme in das jeweilige Team der Klinik. Da ist schnelles Lernen, Teamgeist, Fleiß und Leistung gefordert.
Dies wollen wir mit diesem Blogbeitrag fördern: GHS steht auch für „Gemeinsam Hebammen stärken“. Und wir wollen Schwangeren zu einer optimalen Geburt verhelfen – das dient auch unseren Klinikkunden.
Die gute Nachricht vorab: Der Frankfurter Koordinator Professor Louwen und seine 50 Mitstreiter waren fleißig. Unter awmf.org stehen drei umfangreiche Dokumente zum Download bereit:
- Kurzfassung mit 86 Seiten (Vorsicht: im Inhaltsverzeichnis steht unter 1. „Langversion“, im Gegensatz dazu ist die Versionsbezeichnung auf der Titelseite richtig)
- Langfassung mit 136 Seiten (nicht aus der Versionsbezeichnung auf der Titelseite erkennbar)
- Leitlinienreport mit 485 Seiten
Eine Fassung für werdende Mütter und Väter sucht man vergeblich.
Die federführende Organisation ist die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). Unterstützt wird sie von den österreichischen und schweizerischen Schwestergesellschaften.
Immerhin waren auch insgesamt sieben Vertreterinnen der Hebammen vertreten:
- Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. (4)
- Deutscher Hebammenverband (2)
- Schweizerischer Hebammenverband (1)
Die papieraffinen Leser/innen seien gewarnt: Genau hinschauen, welches Dokument Sie vor sich haben und Vorsicht mit dem Druckbefehl! Allein das Literaturverzeichnis umfasst 363 Quellen auf 25 Seiten! Insgesamt ist eine sinnentnehmende Lektüre der Leitlinie kräftezehrend. Hilfreich ist es, das Abkürzungsverzeichnis der Seiten 13 und 14 der Kurzfassung ausgedruckt neben sich liegen zu haben.
Die Leitlinienklasse 3 signalisiert, dass die Empfehlungen eine systematische Entwicklung durchlaufen haben. Näheres zu Entwicklungsstufen, Evidenzklassen und Empfehlungsgraden finden sie bei AWMF oder ergänzend auch hier. Kurzum: Zwar hat eine Leitlinie keine juristische Verbindlichkeit, aber diese hier wird Sie im Hebammen-Alltag begleiten.
Die großen Überschriften der Leitlinie umfassen u.a. Definition und Klassifikation, Aufklärung, Indikation, Zeitpunkt, Durchführung und Schwangerschaft nach Sectio.
Dieser Blogbeitrag wird schließlich durch einen Medienextrakt und die Diskussion verschiedener Aspekte des Kaiserschnitts abgeschlossen. Diskutieren Sie mit und schreiben Sie uns! Entweder direkt an den Autor: arnd.grosch@grosch-ps.de oder über unsere Homepage www.grosch-hebammen-service.de oder auf Facebook, Instagram, etc.
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2. Fazit für Kurzleser
- Die Erstellung der S3-Leitlinie zur Sectio caesarea war ein literaturwissenschaftliches Mammutprojekt. Ob so viel Literaturrecherche notwendig war, um dann doch den Empfehlungen der britischen NICE-Leitlinie zu folgen, sei dahin gestellt.
- Leider verhagelte die Suche nach Evidenz die Lesbarkeit der Dokumente.
- In einigen Bereichen, wie z.B. der Aufklärung der Mütter, kollidieren die Forderungen mit dem Arbeitsalltag von Hebammen und geburtshilflichen Gynäkologen. Das wird die Verbreitung der Leitlinie nicht fördern.
- Mit der Qualitätssicherungs-Richtlinie für Früh- und Reifgeborene des G-BA und der S1-Leitlinie 087-001: Empfehlungen für die strukturellen Voraussetzungen der perinatologischen Versorgung in Deutschland existieren nunmehr drei Richtlinien mit überschneidendem Charakter ohne konkrete Abstimmung. Es muss davon ausgegangen werden, dass in dieser umgebenden Textfülle die vorliegende Sectio-Richtlinie nicht die gebührende Umsetzung findet.
- Trotz der Forderungen nach umfassender Aufklärung der Mütter gibt es (noch?) keine Patientenversion der Leitlinie in verständlicher Sprache.
- Wichtige Aspekte aus der praktischen Geburtshilfe wie Zeitbedarfe, Personalmangel, finanzielle Anreize, langfristige Folgen einer Sectio, Verhalten der Geburtshelfer bei übermäßiger Indikation zu Sectiones und Dokumentation werden nicht behandelt. Das reduziert die Akzeptanz bei Hebammen und Gynäkologen.
- GHS unterstützt die Forderung des Leitlinienkoordinators Prof. Louwen zur Schaffung einer einheitlichen DRG „Betreuung unter der Geburt“, die vaginale Entbindung und Sectio integriert. Gleiches gilt für die Übernahme der geburtshilflichen Vorhaltekosten, die gerade auch kleinere, heimatnahe Geburtskliniken aus Kostenfalle führen kann.
- Prinzipiell ist die Möglichkeit der Sectio ein Segen für die Menschheit. Bei übermäßigem Einsatz ist allerdings Misstrauen angesagt. „Eine Hebamme hat Zeit“ ist dann oft der bessere gangbare Weg.
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3. Highlights aus der S3-Leitlinie Sectio caesarea (Kurzfassung)
(Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Kurzfassung der Leitlinie)
Kapitel 1: Informationen allgemeiner Art
(Seite 8-14)
Hier wird „Ross und Reiter“ genannt, also alle Autoren. Für Methodiker/innen und Leser/innen, die Interesse an den Namen und Organisationen der Ersteller haben, ist dieses Kapitel informativ.
Kapitel 2: Einleitung
(Seite 15-18)
- „Als gesichert darf aber die Erkenntnis gelten, dass eine Sectiorate über 15 Prozent keinen günstigen Einfluss auf die mütterliche und neonatale Morbidität und Mortalität hat und deshalb gut medizinisch begründet sein sollte.“ (Seite 15 oben)
- Für das generelle Verständnis ist die Definition primäre und sekundäre Sectio auf Seite 16 unerlässlich. Bei der Letzteren hat die Geburt bereits begonnen.
- Weiterhin stellt die Klassifikation nach Robson auf Seite 17 einen Standard da, da sie Anamnese und Sectio-Indikation in einfacher Form verbindet.
- Die Epidemiologie in Deutschland zeigt eine Steigerung der Sectiorate von 15% (1991) auf 31% (2018), aktuell herrscht weitgehend Stagnation (vgl. Seite 18). Insgesamt ist das Thema Epidemiologie in der Langfassung tiefer behandelt. Vergleichen Sie hierzu auch das Epidemiologie-Kapitel in der Diskussion.
Kapitel 3: Aufklärung und Beratung
(Seite 19-26)
Prinzipiell besteht ein Expertenkonsens, schwangere Frauen
- frühzeitig
- unter Berücksichtigung von Sichtweisen und Bedenken
- laienverständlich
- unter Berücksichtigung evtl. ethnischer Minderheiten
- evidenzbasiert
- nach dem Prinzip des Shared Decision Making
- über Vor- und Nachteile von vaginaler Geburt und Sectio
aufzuklären.
Hierzu sind auf Seite 21-25 der Leitlinien-Kurzfassung eine Vielzahl an vergleichenden Kriterien in Abhängigkeit der Geburtsmodi aufgelistet. Diese sind zwar nicht für Patienten geeignet, sollten aber jede Hebamme in die Lage versetzen, auch auf seltene Fragen qualifiziert Antworten zu geben. Ein Abgleich mit kommerziell erhältlichen Aufklärungsbögen (z.B. Thieme compliance – vielsprachig erhältlich – oder perimed® – auch in Englisch, Russisch, Türkisch – oder gar einiger Klinik-Eigenschöpfungen wurde nicht gemacht.
Kapitel 4: Indikationen zur Sectio
(Seite 27-35)
- Hilfreich sind die klaren Empfehlungen auf den Seiten 30-37 der Leitlinien-Kurzfassung. Hiermit sind in vielen Fällen eindeutige Vorschläge genannt, an denen sich alle Beteiligten (Mütter, Hebammen, Ärzte) orientieren können.
- Die häufigste Indikation „Zustand nach Sectio“ wird in Kapitel 6 noch detaillierter beleuchtet.
Kapitel 5: Durchführung der Sectio
(Seite 36-44)
- In diesem Kapitel wird der Konsens zur Sectio an sich wiedergegeben. Zielgruppe sind primär Gynäkologen. Auffällig ist, dass fast das gesamte Kapitel eine Leitlinienadaptation der britischen NICE CG132 Caesarean section darstellt.
Kapitel 6: Schwangerschaft und Geburt nach Sectio caesarea
(Seite 45-48)
- Auch dieses Kapitel übernimmt in hohem Maße die o.g. britische Leitlinie.
- Internationale Daten zeigen eine Trendumkehr im Jahre 1997. Bezogen auf 100 Lebendgeborene stiegen in den Folgejahren die primären Sectiones von 15% auf ca. 24% an. Gleiches zeigte die Gesamt-Sectiorate, die von knapp 21% auf ca. 33% hochschnellte. Entsprechend gegenläufig war die Rate von Vaginalgeburten nach Sectio, diese sank von gut 28% auf unter 10%. Fazit: Eine Sectio induziert eine Sectio.
- Diesem Trend entgegen stellt die Leitlinie fest, dass der Versuch einer vaginalen Entbindung nach uterinem Querschnitt für viele Frauen eine sichere Option darstellt.
- Aus der Langfassung: „Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Schwangerschaft und Geburt nach Sectio caesarea. Dies betrifft die wichtigen Themen erneute Sectio caesarea oder vaginale Entbindung nach Kaiser-schnitt, die damit assoziierten Risiken wie Uterusruptur, schwere Blutung der Mutter oder Asphyxie des Kindes. Es werden die Risiken von Schwangerschaft und Geburt bei Placentationsstörung sowie die Aussagefähigkeit der hierfür verfügbaren Bildgebung Ultraschall und MRT und die Bedeutung der Diagnose für die Entbindung diskutiert und das konservative Management der Placenta accreta wird besprochen.“
- Ein unaufgelöster Streitpunkt zwischen Hebammenvertreter/innen und Ärzten ist die Empfehlung 6.3, wo es um kontinuierliche CTG-Überwachung und Verfügbarkeit einer Notsectio geht. Für Interessierte empfiehlt sich die Seite 77 und 78 der Langfassung.
Kapitel 7: Anästhesiologische Maßnahmen
(Seite 49-54)
- Dieses Kapitel gibt in sehr praktischer Art und Weise Anleitungen zu den Themen Gerinnung, Aspiration und Anästhesieverfahren inkl. Überwachung und postoperativer Schmerztherapie.
- Sehr übersichtlich ist die Tabelle der maternalen und neonatalen Outcome Parameter auf Seite 52.
- Für Interessierte sei hiermit auf die wichtigen Forschungskernfragen verwiesen, die sich in der Langfassung auf Seite 94 und 97 finden.
Kapitel 8: Postoperative und postnatale Maßnahmen
(Seite 55-59)
Hier werden bestens bekannt Elemente, die gerade auch Hebammen betreffen, aufgelistet.
Die Spanne reicht von Routinemaßnahmen bis Stillen nach Sectio.
Kapitel 9: Qualitätssicherung
Wer sich hierfür interessiert, sollte in der Langfassung die Seite 108 und 109 lesen.
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4. Medienecho
Wie wir schon bei der IGES-Studie zur stationären Hebammenversorgung feststellen konnten, ist es den meisten Journalisten nicht gelungen, mehrere hundert Seiten durchzuackern und leserfreundlich zu kondensieren. Stattdessen werden exemplarische Einzelaspekte hervorgehoben und kommentiert. Ähnliches erleben wir mit der S3-Leitlinie Sectio caesarea.
Hebammenforum
Das Hebammenforum kommentiert in seiner Ausgabe 10/2020 auf Seite 80 die Thematik „Hausgeburt nach einem vorausgegangenem Kaiserschnitt“. Dieser wird durch die neue Leitlinie enge Grenzen gesetzt. Gut ist die juristische Einordnung der Leitlinie. Als praktische Empfehlung bleibt, dass ein Abweichen von der Leitlinie gut begründet und mit der werdenden Mutter ausführlich besprochen werden muss.
Deutsches Ärzteblatt
Unter dem Titel „Erste S3-Leitlinie zum Kaiserschnitt soll Entscheidung für Geburtsmodus erleichtern“ berichtete das Deutsche Ärzteblatt am 12. Juni 2020 über die Leitlinie und gab dabei einen recht umfassenden Überblick über die Inhalte. Dieser wurde am Beispiel „Beckenendlage“ praktisch durchgespielt. Dem Ärzteblatt hoch anzurechnen ist die Diskussion der Sectiorate, die seit der Bertelsmann-Studie 2012 auch in der Öffentlichkeit stattfindet.
Die Zeit online
In der Zeit online erschien am 12. Juni 2020 der Bericht „Kein Kaiserschnitt, wenn er vermeidbar ist.“ Der Titel deckt sich mit dem Inhalt und hebt auf die regionalen und Klinikunterschiede in der Häufigkeit der Kaiserschnitte ab.
Am gleichen Tag gab es auch ein Interview mit dem Gynäkologen Michael Abou-Dakn zum Thema Sectio und Hausgeburt: „Viele Ärzte wussten es schlicht nicht besser.“ Die S3-Leitlinie war hier der Anlass, das Thema Risiken der Hausgeburt näher zu beleuchten. Der Interviewpartner ist eher ein Fürsprecher der Hausgeburt, v.a. bei risikolosen Schwangerschaften und wenn für Notfälle eine Klinik in der Nähe ist.
ihr-Anwalt.com
Die Kanzlei Quirmbach & Partner berichtet im Blog auf ihrer Homepage am 27. Juli 2020 unter dem Titel „Die neue Leitlinie zur Kaiserschnittentbindung – medizinjuristische Entlastung für die Geburtshelfer?“ Die Ansichten eines Patientenanwalts weichen naturgemäß von denen heilberuflich Tätiger ab. Ein Kritikschwerpunkt ist die Unschärfe der Leitlinie was die umfassende Patientenaufklärung im Falle einer Risikokonstellation anbelangt. Dadurch sei die „einsame Entscheidung“ von Arzt/Hebamme gefördert. Der Autor fordert die gemeinsame Aufklärung und Willensbildung auch und gerade wegen der Sachwalterschaft der Mutter für ihr Kind und zitiert entsprechende Urteile. Die Entscheidungshoheit über den Geburtsmodus liegt bei der Mutter.
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5. GHS Grosch Hebammen Service Statement und Diskussion
Im Folgenden werden Einzelaspekte der Leitlinie aus der persönlichen Sicht des Autors kommentiert:
Epidemiologie – Wie sollen wir mit ihr umgehen?
- Die Epidemiologie in Deutschland zeigt eine Steigerung der Sectiorate von 15% (1991) auf 31% (2018), aktuell herrscht weitgehend Stagnation (vgl. Seite 18). Insgesamt ist das Thema Epidemiologie in der Langfassung tiefer behandelt.
- Eine gute Begleitlektüre ist der Kommentar des Science Media Centers. Demnach reichen die Sectioraten in Deutschland je nach Klinik zwischen 10,4 Prozent und 66,7 Prozent, wobei Kliniken mit weniger als 500 Geburten pro Jahr eine Tendenz zu höheren Sectioraten zeigen.
- Auch zwischen den Bundesländern existieren nicht erklärbare Unterschiede: Sachsen mit den wenigsten Sectiones (24 Prozent in 2017) und das Saarland mit den meisten Sectiones (37,2 Prozent). In der risikoadjustierten Betrachtung liegt hingegen Bayern auf dem letzten Platz, während Sachsen wiederum Nr. 1 ist.
- In Europa liegt Deutschland im Mittelfeld. Die Spanne reich von Island (14,8 Prozent) bis Zypern (52,2 Prozent).
- Weltweit finden sich die west- und zentralafrikanischen Länder mit 4,1 Prozent am unteren Ende während in Lateinamerika Sectioraten von über 44 Prozent erhoben wurden.
- Leider haben sich die Autoren nicht dazu hinreißen lassen, eine Zielrate anzugeben oder einen Korridor der Sectiorate in Abhängigkeit des Levels der Geburtskliniken zu skizzieren. Aber in der Einleitung auf Seite 15 findet sich folgender Satz, der zumindest ein wenig Licht ins Dunkel bringt: „Als gesichert darf aber die Erkenntnis gelten, dass eine Sectiorate über 15 Prozent keinen günstigen Einfluss auf die mütterliche und neonatale Morbidität und Mortalität hat und deshalb gut medizinisch begründet sein sollte.“
- Faustregel von GHS: Bei Sectioraten dauerhaft über 30% läuft sollte man genau hinschauen. Systemfehler (z.B. Mengenausweitung durch Belegarztsystem), Prozessmängel in der Geburtshilfe (z.B. Verfahren zur Indikationsstellung), Personalmangel, materielle Anreize und fehlende Qualitätssicherung bedürfen der kritischen Gewichtung.
- Eine Sectio induziert weitere Sectiones, auch wenn die Leitlinie Handlungsanweisungen für eine Vaginalgeburt nach vorangegangener Sectio gibt. Die Statistik spricht allerdings eine andere Sprache: Mehr als ein Viertel der Sectiones hatten als Indikation Zustand nach Sectio.
- Empfehlung GHS: Auswertung der Gefährdungs- und Überlastungsanzeigen in den Kliniken. Diese sind zwar nur die Spitze des Eisbergs, sind aber häufig ein harter Indikator, z.B. auch bei einer hohen Sectiorate.
Aufklärung der Frauen
- Die Medizin befindet sich in einem Umbruchprozess. Die patriarchalische Entscheidungsvorgabe ist fast nur noch in Akut- oder Unfallsituationen angebracht.
- Das Prinzip des „Shared decision making“ erhält in fast allen Disziplinen Einzug. Immer mehr Patienten haben Zugang zu früherem Herrschaftswissen der Ärzte. „Dr. Google“ macht es möglich und täglich arbeiten tausende von Programmierern daran, die Systeme besser zu machen.
- Insofern sind die Forderungen des Kapitels 3 nichts Überraschendes. Fast alle Kliniken haben darüber hinaus Patientenaufklärungsschriften im Gebrauch, die einen dokumentierten Standard erlauben. Aber natürlich kollidieren diese Forderungen, wenn eine bis dato unaufgeklärte Frau vom geburtshilflichen Team informiert werden soll, wenn drei oder mehr Geburten gleichzeitig betreut werden.
- Aus juristischer Sicht wird die Dokumentation dieser Aufklärungen an Bedeutung weiter zunehmen. Nicht nur Anwaltskanzleien (siehe oben), sondern auch Websites, z.B. hier erklären Schritt für Schritt, wie sich bei Verdacht auf Gesetzesübertretungen im Rahmen einer Geburt zu verhalten ist. Dieses Damoklesschwert schwebt über den Hebammen und geburtshilflichen Gynäkologen.
- Vollkommen unbeachtet bleibt der Umstand, wie eine Aufklärung in der Geburtsklinik bei dem derzeitigen Personalmangel von Ärztinnen, Ärzten und Hebammen umgesetzt werden soll. Ein Zeitaufwandschätzung vermisst man ebenfalls, insbesondere für Frauen, die ethnischen Minderheiten entstammen und/oder nur über eingeschränkte Deutschkenntnisse verfügen.
Adhäsionen (Verwachsungen) & Co. – langfristige Folgen nach Sectio
- Als junger Assistenzarzt in der Chirurgie wurde ich im Nachtdienst wiederholt als Assistent bei sekundären Kaiserschnitten hinzugeholt. Ich staunte nicht schlecht, als ich die Unterschiede in der Operationstechnik sah. Dass es bei der Eröffnung von Abdomen und Uterus schnell gehen muss, sah ich noch ein. Aber der Verschluss, der Rückzug aus Uterus und Bauchhöhle fiel doch deutlich burschikoser aus, als ich es aus der Chirurgie gewohnt war. Da wunderte mich nicht, dass auf dem OP-Plan so häufig Adhäsiolyse stand.
- Insofern sind die Kapitel 5.5.9.1 und 5.5.10 der Kurzfassung, in denen der Verzicht auf Peritonealnaht und Subcutannaht empfohlen wird, im gleichen Zusammenhang zu sehen. Auch findet die Wortsuche „Verwachsungsbarrieren“ oder „Adhäsionsprophylaxe“ keinen Treffer im Leitliniendokument. Langzeituntersuchungen liegen den Autoren keine vor. Informativer sind da die Ausführungen der Kieler Frauenklinik für deren Patientinnen, die explizit auf diese Langzeitkomplikation hinweisen.
- Leider gibt es noch mehr langwierige Folgen einer Sectio. Da sind die kosmetischen Probleme nach Sectio, von denen viele Ästhetische Chirurgen profitieren, eine exemplarische Praxis finden Sie hier. Ebenfalls nicht selten, aber belästigend sind Nervenverletzungen mit Sensibilitätsstörungen oder Schmerzen. Und die iatrogene Endometriose nach Sectio mit entsprechenden Zyklusbeschwerden wünscht man auch keiner Mutter.
- Die Leitlinie bietet Hinweise auf erfolgreiches Stillen nach Sectio. Leider kollidieren auch hier Anspruch und Wirklichkeit: Die Sillraten sind deutlich geringer nach Sectio.
- Natürlich hat das akute Wohl von Mutter und Kind Vorrang vor allem anderen. Aber in einer Leitlinie so wesentliche langfristige Lebensqualitätsaspekte auszublenden verträgt sich aus unserer Sicht nicht mit der Philosophie des ganzheitlichen Qualitätsmanagements.
Finanzielle Anreize
- Betrachtet man die Häufigkeiten von Kaiserschnitten, so gelangt man früher oder später an den Punkt der wirtschaftlichen Folgen eines Kaiserschnitts. Dieser wird in dieser Leitlinie komplett ausgeblendet. Versucht man, die Buchstaben „DRG“ zu finden, geht man leer aus. Aus meiner Sicht ein methodischer Fehler, denn um die bestehenden Daten zu verstehen, gehört die materielle Betrachtungsweise dazu.
- Die Lücke der Leitlinie macht der Leitlinienkoordinator, Prof. Frank Louwen, in einem beachtenswerten Interview im Deutschen Ärzteblatt Er fordert, die wirtschaftlichen Anreize v.a. der primären Sectio durch eine einheitliche DRG „Betreuung unter der Geburt“ zu ersetzen. Auch plädiert er für die Übernahme der Vorhaltekosten, die in der S1-Leitlinie 087-001 „Strukturelle Voraussetzungen der perinatologischen Versorgung in Deutschland, Empfehlungen“ gefordert werden. Das sind Forderungen, die GHS voll und ganz unterstützt.
- Das DRG-System und die Schattenwelt der Kodierung sind sehr intransparent, schon gar für medizinische Laien. Insofern sind die folgenden Zahlen mit Vorsicht zu genießen: Eine primäre Sectio wird mit ca. 3.000 Euro vergütet, eine Spontangeburt dagegen nur mit ca. 2.000 Euro (vgl. Deutsches Ärzteblatt). In einer hochinteressanten DIMDI-Publikation aus dem Jahre 2017 können auf Seite 65 Kostenquoten für die Spontangeburt in Höhe von 1.700 Euro und für die primäre Sectio in Höhe von 2.100 Euro postuliert werden. Aufgrund des Alters der Daten dürfte die Kostenquote eher höher liegen. Als Schlussfolgerung kann gesagt werden, dass die Spontangeburt nicht kostendeckend ist und durch die primären Sectiones subventioniert wird. Das DIMDI sieht dennoch keine honorarinduzierte Ausweitung der primären Sectiones, Prof. Louwen spricht hingegen im oben zitierten Ärzteblattinterview ganz offen von einem „ökonomischen Anreiz des Kaiserschnittes“
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Autor:
Dr. med. Arnd Grosch
Grosch Hebammen Service
Ein Geschäftsbereich der Dr. Grosch Consulting GmbH
arnd.grosch@grosch-ps.de
www.grosch-hebammen-service.de
Tel 07151-205848-11
Bildnachweise
[1] National Cancer Institute, Cancer Surgeons
[2] Jamie Street, Yosemite National Park
[3] Steve Johnson, Writer’s Blockafel
[4] Lacie Slezak, books
[5] Clay Banks, Glove up
[6] AbsolutVision, Stethoscope and EKG
[7]Joyce McCown, typewriter
[8] Oleksandra Troian, Stockphoto
[9] splendens, Stockphoto
[10] Micheile Henderson, green plant